03.04.11

11 - Wie kam es soweit?

Seit Tagen und Wochen erleben wir das, was man als Apokalypse bezeichnet. Alles, was jetzt geschieht, in Japan, im Land, das sich selber so weit gebracht hat, dass die Ehre zum Ehrgeiz wurde, ist nicht nur entsetzlich, sondern auch so, dass keine Normalität mehr stattfindet. Kein normaler Alltag findet mehr statt, weder in Japan, noch irgendwo sonst, weil sich die Ereignisse so überschlagen, dass niemand mehr nein sagen kann. Niemand kann sagen, das geht mich nichts an, denn die Erde bewegte sich zwar am stärksten in jenem Gebiet, in dem sich diese befinden, die seit Jahrhunderten Wert darauf legen, alles ins Lot zu bringen, doch die Erde ist eine Erde und was in und auf ihr geschieht, kann nicht getrennt werden. 
In Japan bebte die Erde am stärksten, aber die Sprache ist so genau, dass sie nicht von einem japanischen Beben, sondern von diesem Erdbeben spricht, das alles mit einbezieht. Alles wurde vom Erdbeben betroffen, das Japan wie ein Schicksal getroffen hat, denn es liess nicht nur Häuser und andere Bauten in sich zusammenfallen, sondern es stiess von unten her so in das Meer, dass dieser Tsunami entstand, der so weit in das Land vordrang, dass er ganze Städte und Dörfer verschlang. 

Ein Erdbeben kommt selten allein, aber es ist selten der Fall, dass die Folgen eines Erdbebens so schrecklich sind, wie wir sie jetzt erleben. In Japan wurden nicht nur einige, sondern sehr viele Atomkraftwerke gebaut, weil jene Würde, die im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen ist, wieder hergestellt werden musste. In Hiroshima und in Nagasaki ist die Seele des japanischen Volkes so verletzt worden, dass man alles daran setzte, so schnell wie möglich in diesen Zustand zu kommen, der diesem vergleichbar war, den der Sieger besass.
Der Sieger waren die Vereinigten Staaten, die als Wirtschaftsmacht auch eine Wissenschafts- macht waren und die deshalb die schlimmste Waffe erfinden konnten, die jemals erfunden wurde. Die Atombombe ist jener Fluch, den die Japaner mit so vielen Opfern bezahlten, dass er immer in ihrem Gedächtnis bleibt. Da sie den Fluch ins Gegenteil kehren wollten, nahmen sie an, dass er sich in einen Segen verwandeln lässt, wenn man ihn friedlich nutzt. Sie vergassen, dass ein Fluch immer ein Fluch bleibt, auch dann, wenn man so mit ihm umgeht, dass er jenen Wohlstand erzeugt, den Japan erreichte. 

Der Wohlstand, den Japan erreichte, wuchs in den Himmel hinein, in den Himmel, der sich erhitzte, als sich der Tod über die Menschen hermachte und ihnen ihr Leben nahm. Die Erleuchtung, die die Japaner suchten, wurde vom Blitz getroffen, den die Bombe entliess. Die Erleuchtung war keine Erhitzung, keine Gemütsverfassung, die alles verdrängte, was war. Nein, sie war dieser Erfolg, der sich diesen verdankte, die nicht an den Wohlstand dachten, sondern an nichts, an gar nichts, was Wünsche erzeugt und was das Da des Daseins verleugnet. 


Das Denken wurde in Japan erforscht, und es waren die Mönche, die buddhistischen Mönche, die als erste erkannten, dass das Denken still werden muss, wenn jenes Wachstum entstehen soll, das der Schöpfung entspricht. Die sehenden Mönche erkannten, dass das Denken den Stillstand erzeugt, wenn es sich selbstständig macht. Was in den Klöstern von Japan entstand, war keine Wissenschaft, sondern der Raum, der das Wissen enthält, das alles umfasst. 
Ich würde jetzt gerne vom kosmischen Wissen sprechen, wenn ich nicht wüsste, dass sich der Kosmos verkleinert hat, seit sich die Wissenschaft um ihn kümmert. Seit der Kosmos zum wissenschaftlichen Objekt gemacht worden ist, ist er kein Kosmos mehr, sondern ein Raum, ein zeitlicher Raum, der alles enthält, nur nicht das Nichts, das sich diesen erschloss, die nichts anderes machten, als in sich zu gehen, in das eigene Selbst, das am Anfang von allem steht. 


Am Anfang der Welt ist jenes Wort, das alles enthält, alles, was im Kosmos entsteht und was wachsend erscheint. Wer in sich hinein geht, entdeckt dieses Sein, das jenen Kosmos entstehen lässt, der sich dauernd entfaltet. Der sich dauernd entfaltende Kosmos ist wirklich. Aber das Denken ist viel zu beschränkt, als dass es in die Wirklichkeit gehen könnte, die deshalb entsteht, weil sich das Sein ereignet.
Das Ereignis des Seins ist jene Schöpfung, von der wir immer noch meinen, dass sie das Ergebnis des Urknalls ist, der einmal geschah. Dass die Schöpfung kein Knalleffekt ist, sondern etwas, das wächst, von innen nach aussen wächst, wussten jene, die sich der Leere verschrieben und die nicht an das Denken glaubten, weil sie sehen konnten, was in ihm geschieht. 


Im Denken wird die Schöpfung verkürzt, weil die Struktur, die es hat, nicht offen ist, sondern zu, weil es so funktioniert, dass es Erfahrungen speichert und sich in diesen bewegt. Wissen hat aber nichts, aber auch gar nichts mit Erfahrungen zu tun, sondern mit dem, was wirksam in diesem Sinn ist, dass es sichtbar macht, was unsichtbar ist. 
Wirksam ist das Denken natürlich auch, aber es wirkt nicht an sich, sondern deshalb, weil es Konzepte entwirft und diese Realität erschafft, die nicht natürlich, sondern nur künstlich ist. Die Realität, die vom Denken geschaffen wird, kann weder ganz, noch vollständig sein, denn das Denken ist immer nur Körper, ein Körper im Körper im Körper, was konsequenterweise bedeutet, dass es nicht aus dem Körper herausdenken kann. 


Das Denken ist Körper, und weil es nichts anderes ist, ist es, wenn ich dies sagen kann, blind, so blind, dass es nur ahnend versteht, was Kosmos bedeutet und was in ihm entsteht. In Japan wuchs der Buddhismus in die Erkenntnis, dass die sichtbare Welt von der unsichtbaren gehalten wird und dass es deshalb notwendig ist, aus dem Denken heraus in dieses Sehen zu kommen, das wahrnimmt, im Wortsinn wahrnimmt und alles zusammen bringt. 
Die Entwicklung, die in Japan verwirklicht wurde, war wirklich einmalig, denn so weit ist keine Kultur gegangen, dass sie sich dem Denken entzog und jenes Wissen konkret gemacht hat, das anders, ganz anders ist. Ganz anders ist dieses Wissen, das sich dem Selbst verdankt, als dieses des Denkens, denn es ist identisch mit diesem, das die Schöpfung enthält und das sich so manifestiert, dass alles aus sich heraus wächst. 


Die Erleuchtung, die ich erwähnte, war kein Wunder und auch kein Geschenk, das Japan bekommen hat und andere Länder nicht, sondern sie war das Ergebnis des Wegs, den diese gegangen sind, die keinen Widerspruch in sich behielten und die konsequent einen Schritt nach dem anderen machten, in jene Wirklichkeit machten, die Innen und Aussen enthält, die beides enthält, das Sein und das Da, das Selbst und die Welt, das Wissen und diese Schöpfung, die nicht knallt, sondern wächst, immerzu wächst und nicht aufhört zu wachsen, weil die Zahlen unendlich sind.
Eigentlich müsste man sehen, auch in Europa sehen, dass die Erfindung des Urknalls ein Irrtum ist, weil das Erste nicht wäre ohne das Zweite und weil das Zweite das Dritte bewirkt, weil also das Erste und Zweite und Dritte als Dreiheit vorhanden sein muss, damit sich etwas ergibt. So könnte man ebenfalls formulieren: Die ersten drei Zahlen sind die Bedingung für das, was man als Schöpfung bezeichnet. Oder noch einmal anders gesagt: Das Elementare ist der Grund für die Erscheinung der Welt, für die Sichtbarwerdung des Wissens, das innen, im Sein ist, in dem, was weder ein Ort ist, noch etwas, das sich beschreiben lässt. 

In Japan wusste man immer, dass das Denken zur scheinbaren Welt gehört, zur Scheinwelt, in der das Sein eine entscheidende Rolle spielt, in der das Sein aber auch negiert werden kann, was immer geschieht, wenn sich die Realität über die Wirklichkeit stellt. Die Realität war in Japan keine seinsvergessene Welt, sondern die dem Sein Nachdruck gebende Welt, die das Sein zur Anschauung bringende Welt. Die Realität wurde in Japan nicht als Gegenwelt konzipiert, sondern als - man könnte es so formulieren - Öffnung zu dem, was sich im Kosmos befindet. 
Alles, was in Japan konkret gemacht worden ist, kam von der Leere, von dem, was hinter dem Denken ist. Alles, was in Japan verwirklicht wurde, war schön, weil es den Raum, den es gab, geöffnet und nicht zugemacht hat. Alles, was in Japan ins Werk gesetzt wurde, war so radikal, dass man nur staunen muss, wie dies möglich gewesen war. 


Natürlich kann ich jetzt nicht alles beleuchten, was notwendig wäre, damit man versteht, wie es dazu gekommen war, dass in Japan eine Ästhetik entstand, die nicht nur elementar war, sondern auch so, dass sie als Wissensästhetik funktionierte. Selbstverständlich kann ich jetzt nicht beschreiben, wie die Erkenntnis vom Wesen der Welt eine Realität schuf, die nicht abgetrennt, sondern im Wortsinn verbunden war. In Japan war man verbunden mit dem, was wir als Jenseits bezeichnen, denn die Trennung, die wir vollzogen, vollzog man in Japan nicht. In Japan wollte man wissen, nicht glauben, und weil man wusste, dass das Denken nichts weiss, ist man weiter als dieses gegangen, so weit, dass sich die Schönheit selber erschuf. 
Die Schönheit, von der ich jetzt spreche, ist weder dekorativ, noch so, dass sie etwas verschönert. Sie ist einfach sich selbst. Sie ist das Ergebnis des Wegs, der einfach, ganz einfach ist. Der einfache Weg ist immer der schwierige Weg, denn er sucht nicht und führt nicht irgendwohin, sondern er ist immer im Ziel, in seinem eigenen Ziel, was, wie sich von selber versteht, sehr viel von diesem verlangt, der ihn geht. 

Wenn jemand den Weg geht, der sein Ziel in sich hat, ist seine Zukunft nicht irgendwo, sondern da, in der Gegenwart, die er hat, was konsequenterweise bedeutet, dass er seine Sinne anders ausrichtet als dieser, der Wünsche und Hoffnungen hat. Der sich selber zum Ziel machende Weg kann kein Konzept und auch keine Arbeit sein, denn er verwirklicht sich selbst und weil er sich selber verwirklicht, ist er wie ein Pflanze, die sich entwickelt, indem sie sich selber entspricht. 
Der einfache Weg ist schwierig, weil wir vom Denken abhängig sind, weil wir das Denken so kultivieren, dass wir ihm immer gehorchen, auch wenn es uns alles nimmt. Wir werden vom Denken getrieben, in jede erdenkliche Richtung getrieben. Wir werden vom Denken wie Schafe getrieben, was konsequenterweise bedeutet, dass jeder Weg, den wir gehen, kein eigener Weg ist, sondern ein erfundener Weg. 

Das Denken kann vieles erfinden, aber es kann nicht finden, nicht sehend erkennen, denn das Sehen setzt ein Auge voraus, und wenn man behaupten würde, dass das Denken ein Auge ist, wäre man unglaubwürdig. Das Denken sieht nicht, sondern es kann nur vergleichen, die Daten vergleichen, die es gespeichert hat, was vielfach notwendig und wichtig ist, aber nur dann, wenn man sich durch die Realität bewegt.
Wenn man in der Wirklichkeit lebt, kommt man nicht weit mit dem Denken, denn die Wirklichkeit verwandelt sich ununterbrochen, weil sie natürlich entsteht. Die Realität entsteht nicht natürlich, sondern sie wird konstruiert, sie wird künstlich gemacht. Wer von der Realität in die Wirklichkeit kommen will, muss die Denkstrukturen verlassen und in die Strukturen des Geistes gehen.


Widersprüchlich klingt dies nur dann, wenn man Denken und Geist als Synonyme betrachtet, was weder sinnvoll, noch nützlich ist, denn das Denken ist, wie ich schon sagte, Körper, und der Geist ist nur Geist, also etwas, das jenseits des Körpers ist. Wir wussten zwar immer, dass es jenseits des Körpers noch etwas gibt, aber wir waren im Denken gefangen und konnten uns nur von ihm trennen, indem wir vom Jenseits glaubten, dass es nichts mit dem Denken zu schaffen hat. Doch die Sprache sagt klar, dass das Dasein ein Da und ein Sein besitzt, was - wie könnte es anders sein? - bedeutet, dass das Denken dem Da gerecht werden kann, aber nicht dem Sein, das dem Geist gehört, weil es, wie ich ebenfalls sagte, keinen Ort hat und nicht etwas ist, das sich beschreiben lässt. 
Dass es den Geist gibt, wusste jede Kultur, aber nicht jede Kultur wusste, was Anfang bedeutet, Anfang von dem, was Welt genannt wird und was als Kosmos alles in sich enthält. In Japan kam man dem Anfang sehr nahe, weil man dem Dasein gerecht werden wollte, dem Dasein und nicht nur dem Da, dem sichtbaren Da, das Zeit und Materie ist. In Japan wollte man sein, da sein und nicht nur so existieren, dass jenes Wohlbefinden entsteht, das die Sinne befriedigt, aber nur sie. 


In Japan wollte man den Sinn und die Sinne zusammenbringen oder, anders gesagt, man wollte den Sinn durch die Sinne erfahren und deshalb kam diese Schönheit zustande, die nicht vergleichbar mit einer anderen ist. Die Schönheit, die typisch für Japan ist, ist weder eine erdachte, noch eine kopierte, sondern die Schönheit an sich. Die Schönheit an sich verwirklicht sich dann, wenn sich dieser, der sie erschafft, nicht zum Mittelpunkt macht, nicht zum Zentrum, um das sich die Schönheit dreht, denn die Schönheit an sich kann weder subjektiv, noch so sein, dass sie das Subjektive zum Maßstab macht. 
Dass sich in Japan eine Schönheit entwickelt hatte, die sich dem Subjektiven entzog und die elementarer als jede andere Schönheit war, war kein Zufall, denn die Erkenntnis, dass das Subjekt nicht an sich besteht, sondern dass es ein Denkprodukt ist, war in Japan verbreitet, viel verbreiteter als irgendwo sonst. 


In Japan war vieles anders als anderswo. Aber seit der schrecklichen Tat, die die Amerikaner vollbrachten, kehrte sich alles um. Alles kehrte sich so in sein Gegenteil, dass das Subjekt diese Rolle bekam, die es vorher nicht gehabt hatte. Das Subjekt wurde wichtiger, als es je war, weil man jetzt glaubte, dass nur die eigene Subjektivität die fremde Subjektivität besiegen kann. 
Weil ich jetzt einen Sprung gemacht habe, muss ich eine Erklärung einschieben: Da das Subjekt keine Entität, sondern eine Erfindung ist, kann es Realitäten erschaffen, die selbstständig sind oder, anders gesagt, die einen eigenen Raum besitzen, einen Scheinraum, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Scheinraum der subjektiven Realitäten ist kein Sinnraum, sondern ein Sinnesraum, ein den Sinnen gehörender Raum, der süchtig macht, weil in ihm keine Wirklichkeit ist. 


Wer seine Sinne befriedigt, ohne seinen Sinn zu erfahren, ist wie jemand, der eine Schifffahrt macht, ohne ans Ziel zu kommen. Eine Schifffahrt ist immer schön, aber die Schönheit der Schifffahrt ist keine Schönheit mehr, wenn es dem Schiff nicht gelingt, sich zu orientieren und anzukommen in jenem Hafen, der ihm gehört. Jedes Schiff braucht einen Hafen, denn ein Schiff, das nur fährt, auf dem Meer, dem Zeitmeer herumfährt, ohne dass es sich mit etwas Festem verbindet, ist wie die Nussschale, die nur auf und ab gehen kann und die schlussendlich ein Opfer der Wellen wird. Die Sinne sind wichtig, aber nur dann, wenn sie eine Richtung besitzen, eine Sinnrichtung, könnte man sagen, denn sobald die Sinne richtungslos sind, verirren sie sich, und sobald sich die Sinne verirren, werden sie zu einer Gefahr. 


Ich habe gesagt, dass es den Japanern gelang, den Sinnen den Sinn zu geben und dass die Kultur, die sie schufen, deshalb so entwickelt gewesen war. Ein Reich der Sinne, in dem der Sinn gepflegt worden war, war Japan vor dem Zusammenbruch. Nach dem Krieg wollte man nichts mehr vom Nichts wissen, denn dieses war schuld, dachte man, dass die erwähnten Städte in das schrecklichste Unglück gebombt worden waren. 


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München/Gebenstorf, 17./24. März 2011