03.07.11

13 - ZURÜCK AUF ANFANG

NACHHER IST VORHER

Diagnose: Raumforderung parietal, rechts. - Das klingt immerhin nicht bedrohlich. Es gibt eine Raumforderung in meinem Gehirn, und bis jetzt weiss man nicht, ob diese Raumforderung identisch mit dem Wort Geschwür oder Tumor ist. Und wenn sich die Raumforderung denn als Tumor identifizieren lässt, weiss man noch nicht, wann und weshalb und wie schnell er gewachsen ist. Und man weiss auch noch nicht, ob meine Raumforderung noch mehr Raum, Gehirnraum fordert oder ob sie schon in sich zusammenbricht und sich selber zurücknimmt und auflöst. Man weiss noch nichts.


Die navigationsgesteuerte Biopsie, die am 21. Juni an meinem Kopf vorgenommen wurde und in deren Folge ich eine Woche im Kantonsspital Aarau lag, ergab keinen belastbaren Befund, kein Ergebnis, das wie auch immer behandelt werden kann. Deshalb heisst es jetzt: Zurück auf Anfang. Mehr oder weniger der gleiche Film noch einmal. Eine grössere Bohrung diesmal, und eine grössere Materialentnahme. Ob diese ergiebig sein wird, weiss man nicht. 


Letzten Donnerstag habe ich wieder mein Spitalzimmer bezogen, und ich wurde fast den ganzen Tag untersucht, abgeklopft, gemessen und mit Lichtern und Hämmerchen und Instrumenten und vielen Fragen auf einen Nenner gebracht. 

Ich rücke heute Abend wieder dort ein, wo man mich inzwischen schon kennt und wo ich mich durchaus ganz wohl und sogar heimisch fühle. Alles ist dort korrekt. Alles ist sauber Alle sind nett. Alle behandeln mich als Mensch und mit grossem Respekt. Es herrscht bei allen und allem ein grosses Mass an Sorgfalt und Sorgsamkeit. Die Arbeit aller Bahandelnden und Betreuenden wird von Kompetenz, Achtsamkeit und von einer natürlichen Klarheit bestimmt. Deshalb ist es für mich kein Kreuz- und kein Leidensweg, mich noch einmal den Händen und Augen und dem Können dieser zu überlassen, die wissen, was sie tun, wenn sie meinen Kopf aufschliessen, und die dennoch nur wenig, kaum etwas wissen. 


Nach zehn Tagen im Kantonsspital Baden und acht Tagen im Kantonsspital Aarau und nach Pausentagen dazwischen jetzt also wieder eine Woche in Aarau und dann weiter und weiter... Ich weiss nicht wie lange... Die Operation, die morgen an mir vorgenommen wird, zieht vielleicht eine oder mehrere weitere Operationen nach sich. Und wenn ich diesmal vom Spital zurückkehre, nimmt mein Augenarzt erst die verschobene Linsenkapselsprengung an meinem rechten Auge vor. Und wenn die Auswertung meiner Kopfgeburt und des Schatzes, der in ihr verborgen liegt, keine dramatischen Nachbehandlungen erfordern, dann liege ich bald danach, Ende Juli, in einer anderen Stadt, in einem anderen Krankenhaus. In der Augenklinik Luzern wird man mir die Augen aufschneiden und mir beidseitig eine neue Hornhaut einsetzen, damit ich in meinem künftigen Leben auch noch sehen und lesen und schreiben und zeichnen und malen kann. 


ALLES FLIESST


Ja, panta rhei... alles fliesst. Überall, innen und aussen... Weil meine Zeit jetzt in der beschriebenen Weise fliesst, aber nicht zerfliesst oder ausfliesst, sondern sich einfach anders sammelt, ist es realistischerweise nicht möglich, dass ich an den Terminen iin diesem und im nächsten Monat festhalte. Dies betrifft alle Daten und Vereinbarungen, die ich in der Atelierakademie, mit anderen Künstlern, mit Geschäftspartnern und mit Freunden getroffen habe. Wenn ich trotzdem einhalten kann, was geplant und vereinbart war, werde ich diese, die gemeint und betroffen sind, von Falll zu Fall informieren. Ich danke meinen Freunden und allen, denen ich in irgendeiner Weise verpflichtet bin, für ihre Nachsicht und ihr Verständnis. 


Alles fliesst, aber nichts geht verloren. Alles verwandelt sich nur, - immerzu, dauernd. Alles bringt sich in einem Fort in eine neue Ordnung hinein, in neue Konstellationen und neue Strukturen. 
Ich staunte im letzten Winter in Thailand täglich, weil ich auf jede Frage die pragmatisch buddhistische Antwort bekam: No Problem. Es gab tatsächlich nie, kein einziges Mal ein Problem. Jedes Problem wurde gleich und ohne Umweg und auf die unkomplizierteste Art und Weise gelöst. Und wenn es irgendwas gab, das nicht gleich gelöst werden konnte, war es logischerwweise auch kein Problem. 


Dass eine Kultur, die die Probleme, welcher Art sie auch immer sind, einfach löst, unheimlich befreiend ist, liegt auf der Hand. Unser europäische Problemkultur ist alt und hartnäckig, und sie ist diese Leidenskultur, die vielen, sehr vielen den Atem nimmt, den Raum, die Freiheit, sich selbst. Ein bisschen Buddha täte uns gut. Probleme sind immer Leiden, und Leiden sind immer Probleme, und wenn man, wie wir es machen, die Probleme nicht löst, sondern nur mit neuen Problemen und Problemantworten behandelt, schafft man folgerichtig nur unabsehbares neues Leid. Wir sind Problemweltmeister, und weil wir die Probleme, die wir mit unserem Jenseits- und Leidensglauben erzeugen, so gut beherrschen, ist es uns gelungen, die Welt zum globalen Problemfeld zu machen, zum unabsehbaren Feld, auf dem überall immerzu alles zusammenbricht, alles verloren geht, alles zerstört wird, alles in Hässliche kippt. Unsere Lösung war immer die Erlösung, - die Erfindung dieser Erlösung, die sich dem Denken, dem Glauben, dem Wünschen, dem Wollen und Wünschen verdankt, die aber nie auch nur das Geringste mit dem Da, mit dem Jetzt, mit der fliessenden, sich verwandelnden, sich immer und immer in die Ganzheit entwickelnde Schöpfung zu tun gehabt hat. Wir erfanden die Erlösung, diesen irrsinnigen Wahn, weil wir das Dasein trennten, weil wir alles teilten, was war. Wir nahmen dem Da das Sein und dem Sein das Da, und wir gewannen so diese Macht, an der wir noch immer festhalten, obwohl sie offensichtlich in allen und allem nur Ohnmacht erzeugt:



ICH WEISS, DASS ICH NICHTS WEISS


Was ich eben erwähnte, hat auch mit dem Spital, mit der Medizin und mit allem zu tun, was mit dieser zusammen-hängt. Ein Krankenhaus ist naturgemäss ein Ort der Leiden und der Probleme. Würde man meinen. Würde man denken. Dachte ich selber bisher. Ich kannte die Medizin bis vor kurzem nur von aussen, vom Hörensagen. Sie war nur ein Gerücht für mich, ein Gerücht mit vielen Namen und Vermutungen und Vorbehalten und Unbekannten. Etwas Riesiges, Undurchschaubares, Unberechenbares, und auch eine Macht. Und jetzt, da ich mit einem Mal und unerwartet und plötzlich in das medizinische System hineingaraten bin und sogar ein Teil von ihm wurde, stelle ich erstaunt und verwundert fest, dass dieses nicht einfach geschlossen, sondern sehr offen ist. 



Ich hörte, wie ich sagte, in Thailand immer wieder den Satz: No Problem. Und jetzt hörte ich in meinen bisherigen Krankenhauszeiten so oft diesen Satz wie noch nie: Ich weiss nicht. Die Ärzte sagten nicht nur mir, ich weiss nicht, sondern sie sagten diesen Satz auch den anderen Patienten. Ich muss es genauer sagen: Die Ärzte sagten: Wir wissen soviel, und das und das wissen wir nicht. 


Die Sätze No Problem und der Ich weiss nicht meinen und bewirken dasselbe: Sie öffnen die Frage, die Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit und den Weg. Sie verunsichern nicht, sondern sie klären. Sie öffnen und schaffen Raum. Sie manipulieren nicht und behaupten nicht und beziehen sich nicht auf ein Glaubenswissen, das es nicht gibt. 


Ich weiss, dass ich nichts weiss, sagte Aristoteles, und das, was er wusste, war deshalb nachhaltiger als vieles, was sich die europäische Philosophie ausdachte. Und die Juden, die weiter gingen, immer weiter und weiter, in alle Dimensionen, in alles hinein und hinaus, stellten die Frage ins Zentrum, die Frage, die alles bewegt und alles ins Fliessen bringt, die nicht sucht, sondern findet, die nicht teilt, sondern eint und erkennt.


Ich muss gehen. Die Fortsetzung folgt. Das Krankenhaus ist auch ein Ort der Geschichten, ein Ort der Bilder, ein Ort der Grenzen, ein Ort, an dem alles ganz konzentriert und intensiv zusammenkommt. Ich bleibe am Ball. Ich werde die Bilder zur Sprache bringen und die Geschichten erzählen, die mir die kommenden Tage geben. 

Ich residiere ab Sonntag wieder im Kantonsspital Aarau, im Haus Nr. 4/2. Stock. Ich bin direkt erreichbar unter der Nummer: +41(0)62 838 79 40 oder unter meiner Mobile-Nr. +41(0)76 332 19 44. Im Spital habe ich mein Laptop, und ich kann dort auch online sein und die Mails lesen und beantworten.



Gebenstorf, 03. Juli 2011






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen