29.01.11

4 - Wenn sich die Städte entstädtern

Bangkok, 2010
Jede Stadt, jede Großstadt zumindest, verwildert, weil es nicht möglich ist, einem solchen Gebilde eine solche Struktur zu geben, die alles zusammenhält. Eine Stadt kann wachsen oder sie kann das Ergebnis einer planerischen Idee sein, was aber nicht wichtig ist, solange das eine das andere zulässt, solange das eine das andere unterstützt. 
Irgendwann kann eine Stadt aber nicht mehr wachsen, und irgendwann ist es auch nicht mehr möglich, so zu planen, dass alles zum Ganzen wird. Man kann mit Zahlen jonglieren und Theorien aufstellen, aber weil jede Zahl und jede Theorie nicht alles miteinbezieht, kann es nur Hypothesen geben. 


Bangkok, Klongs, 2010
Wenn jemand sagt, eine Stadt kann nur eine Stadt sein, wenn jeder in ihr in Würde und nicht nur nicht arm, sondern so leben kann, dass er sich selber sein kann, dann würde ich sofort zustimmen. Wenn jemand noch hinzufügen würde, eine Stadt kann aber nur eine Stadt sein, wenn sie sich selber so durchsichtig macht, dass alle an allem teilhaben können, dann würde ich auch nicht nein sagen. Ich würde aber eine Sache erwähnen, diese nämlich, dass eine Stadt ein Gemeinwesen ist, ein gemeinschaftliches Wesen, und dass es dieses Wesen nur geben kann, wenn alles natürlich geschieht. 
Ich weiss, jetzt widerspricht man mir so, dass es sehr schwierig ist, jene Stadt ins Visier zu nehmen, von der ich jetzt sprach. Eine Stadt, sagt man mir gleich, ist kein Dschungel, sondern das Gegenteil. Eine Stadt ist kein Wirrwar, sondern eine strengen Gesetzen gehorchende Ordnung. Ich weiss, ja, ich weiss, - aber es gibt doch keinen natürlichen Wirrwar und der Dschungel ist doch die Ordnung selbst. 

Bangkok, Chinatown, 2010
Wenn jede Stadt wie der Dschungel wäre, dann hätte jeder in ihr seinen Raum und jeder könnte sich so entfalten, wie es dem, was er ist, entspricht. Die Sprache ist auch ein Dschungel, weil alles in ihr verbunden ist, weil jedes Wort Wort bleibt, auch wenn es tausend und aber tausend andere Wörter gibt. Die Sprache des Dschungels ist keine einseitige Sprache, sondern eine so vielseitige Sprache wie kaum eine andere sonst. 
Eine Stadt könnte auch eine Sprache sein, aber nur dann, wenn sie sich selber entsprechen würde. Eine Stadt, die sich selber entsprechen würde, wäre keine verwaltete Stadt, sondern eine sich selber organisierende Stadt. Sobald man den Dschungel als Vorbild sieht, sieht man auch, dass er sich selber organisiert, dass er keine Verwaltung braucht, dass er alles, was in ihm ist, schützt und dass er sich dauernd erneuert und sich dauernd selbst bleibt. 

Bangkok, Chinatown, 2010
Selbstverständlich kann keine Stadt ohne Verwaltung sein. Aber Verwaltung kann so oder so sein. Sie kann die Realität einer Stadt schliessen oder sie kann diese öffnen. Weil jede Verwaltung mächtig ist, ist es sehr einfach für sie, die Realität zu schliessen. Doch eine geschlossene Realität ist keine lebenswerte Realität mehr, sondern eine Realität, in der diese, die in ihr sind, funktionieren und sich anpassen müssen.

Ich kenne keine Stadt, die eine offene Realität hat, sondern ich kenne nur Städte, die in sich geschlossen sind. In sich geschlossene Städte zeichnen sich dadurch aus, dass die Summe der Regeln in keinem Verhältnis mehr steht zum Menschen, zum einzelnen Menschen, der in ihnen lebt. 
Regeln sind unverzichtbar, gewiss, aber sobald sie bestimmen und nicht mehr nur regeln, verkehren sie das, was sie regeln, in etwas, das nicht mehr zu regeln ist. 

Bangkok, 2010
Eine Stadt, die die Regel befolgt, dass keine Regel bestimmen darf, wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Eine Stadt, die sich dazu entschliesst, alles, was in ihr ist, gleich zu behandeln, wäre ein so grosser Schritt, dass sehr viel geschehen würde. Eine Stadt, die die Entscheidung trifft, nicht mehr als Zentrum zu funktionieren, sondern als eine räumliche Einheit von vielem, könnte viel mehr erreichen, denn eine Einheit ist weder hierarchisch noch so, dass sie Dinge ermöglicht und andere Dinge verunmöglicht. Eine Stadt, die den Anspruch besitzt, alle ins Boot zu nehmen und niemanden am Rand zu lassen, wäre kein Wunder, sondern einfach eine selbstverständliche Sache.

Bangkok, Klongs, 2010
Jetzt höre ich schon Argumente, eine solche Vielzahl von Argumenten, dass sie mich zwingen zu sagen, dass es einfach nur darum geht, den Städten den Sinn zu geben, den sie eigentlich haben. Der Sinn der Städte liegt, wie ich schon sagte, im gemeinschaftlichen Wesen. Ja, der Sinn der Städte kann kein anderer sein, als dem Individuum diese Gemeinschaft zu geben, die es ihm möglich macht, seine Eigenart zum Gewinn der Gemeinschaft zu machen. 
Jetzt ist es so, dass die Städte einigen Individuen erlauben, sich so zu entwickeln, dass sie zu Überindividuen werden und dass die Mehrheit der Inidividuen nicht als Individuen leben können. 

Bangkok, Klongs, 2010
Aber wie kann eine Stadt denn so werden, dass nicht alles, aber vieles natürlich geschieht? Als Antwort kann ich nur sagen: Indem sie sich so entstädtert, dass alles, was irgendwann irgendjemand bestimmt hat, ausser Kraft gesetzt wird und dass alle Regeln erschlossen oder, anders gesagt, entschlossen geöffnet werden. 
Wenn es keine ungerechten und zweischneidigen und zynischen und absurden Regeln mehr gibt, dann wächst allmählich die Stadt, die so schön ist, wie keine Stadt bisher war. Dann wächst diese Stadt, die schön ist, weil kein Lärm in ihr ist. Weil ihre Nacht nicht zum Tag gemacht wird. Weil ihre Kultur eine jeden tragende Lebenskultur ist. Weil ihre Wirtschaft keine Konsumwirtschaft ist. Weil ihre Wissenschaft konkret macht, was allen nützt und allen so dient, dass alles einfacher wird. Weil ihre Kunst nicht nachahmt, was es schon gibt, und nicht als Narrenkunst funktioniert, sondern dem Elementaren entspricht und deshalb der Stadt mehr Wirklichkeit gibt. Weil jeder leben kann, wie er will, und niemand gezwungen wird, sich so zu verhalten, dass es den andern gefällt. 

Ich höre schon wieder Einwände. Aber allen Einwänden zum Trotz, sage ich, dass die Stadt, die ich eben skizziert habe, keine utopische ist, sondern eine reale. Sie könnte jederzeit konkret gemacht werden. 
Utopien waren immer Ventile der Sehnsüchte der Menschen, die anders leben und anders sein wollten und deren Realität keine Wirklichkeit offen liess. Die sich selber Utopisten nennenden Philosophen kehrten ihre eigene Welt einfach um, was nicht nur eindrückliche Bilder entstehen liess, sondern auch Anstösse gab. Aber es gab noch nie eine Stadt, die erdacht und irgendwann gebaut worden ist und die erfüllte, was sie versprach. 

Aber es wird, dessen bin ich ganz sicher, Städte geben, die natürlich funktionieren, weil sich die künstlichen Städte selber zerstören und weil es keinen anderen Weg mehr gibt.


Hua Hin, 25./29. Januar 2011

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