09.02.11

7 - Wiederholung des Gleichen

Wenn irgendetwas geschieht, eine Revolution zum Beispiel, dann sind diese schockiert, die alles, was aus dem Rahmen fällt, als sehr gefährlich betrachten. Sie sind schockiert, weil ihr Weltbild ins Wanken kommt, weil ihr Weltbild nicht zulässt, dass die Struktur, die es gibt, nicht nur angetastet, sondern sogar in Frage gestellt wird. 
Wir wollen, dass sich die Struktur bewährt, die wir geschaffen haben, und weil wir so sicher sind, dass die Struktur, die wir haben, die beste ist, ist es uns nicht geheuer, wenn sich etwas gegen sie wehrt. Die Revolutionen, die es gegeben hat und die es nach wie vor gibt, waren natürliche Reaktionen auf diese Strukturen, die hart und verkrustet waren und die es nicht fertig brachten, sich zu erneuern. 


Eine Struktur ist keine zeitlose Sache, sondern eine zeitliche Sache oder, anders gesagt, eine Struktur wächst in der Zeit und deshalb kann sie nicht ewig sein. Seltsamerweise wollen jene, die mächtig sind, solche Strukturen schaffen, die dauern und selbstständig sind. Die Mächtigen wollten in jeder Zeit, dass die Strukturen ihr Leben verlängern. Gewiss, es gelang vielen, dem eigenen Tod zu entgehen, indem sie sich sozusagen zum Mass aller Dinge machten, indem sie die Denkstruktur, die sie hatten, zur Allgemeinstruktur machten.
Die Denkstrukturen vieler mächtiger Menschen waren so stark, dass sie Jahrhunderte überlebten, aber sie überlebten nur deshalb, weil sie diesen, die unsicher waren, eine Sicherheit gaben, eine Scheinsicherheit, denn das Denken kann keine Sicherheit schaffen.


Das Denken will herrschen. Es will alles beherrschen, und weil es Sicherheit mit Herrschaft verwechselt, weiss es auch nicht, dass der Sinn der Strukturen nicht dieser ist, irgendetwas in irgendwelche Bahnen zu lenken. Der Sinn der Strukturen ist immer dieser, der Schöpfung den Halt zu geben, den sie benötigt, damit sie sich selber sein kann. Schöpfung bedeutet Entwicklung, und Entwicklung kann es nur geben, wenn - ich will es so formulieren - etwas vorhanden ist, das dem Fliessen die Möglichkeit gibt zu fliessen. 
Dass die Denkstrukturen nichts fliessen lassen, sondern den Fluss unterbrechen, liegt auf der Hand, denn sie strukturieren nicht, sondern sie zementieren die Sachen so, dass es keine Entwicklung mehr gibt. Die Denkstrukturen bestimmen die Realität, weil die Realität vom Denken geschaffen wird. Revolutionen sind Sehnsuchtsventile, Ventile, die die Strukturen sprengen, sobald es keinen Spielraum mehr in ihnen gibt. 


Die ägyptische Revolution, die in diesen Wochen stattfindet, ist wie jede anderen Revolution eine Strukturrevolution. Sie will die Herrschaftsstruktur so verändern, dass die Demokratie wenigstens eine Chance bekommt. Die Chance der Demokratie ist es, den Spielraum so zu vergrössern, dass sich der einzelne selber entscheiden kann, ob er mitmachen will oder nicht. 
Die Demokratie hat viele Vorteile, aber sie hat den entscheidenden Nachteil, dass sie ebenfalls eine Struktur ist, die vom Denken geschaffen wird. Da sie erdacht wird, spielen Interessen in ihr die entscheidende Rolle. Der Standpunkt ist in der Demokratie der entscheidende Punkt, was konsequenterweise bedeutet, dass die Demokratie eine subjektive Staatsform ist und nicht eine Staatsform, in der es um die Verwirklichung dieses Chors geht, der mehr ist als eine Summe von Stimmen.


Ich weiss, wenn ich dies sage, dann wehrt man sich gleich, weil man in der Vielstimmigkeit und in der Pluralität die eigentliche Qualität der Demokratie erkennt. Doch wenn ich auf den Chor der Natur verweise, dann sieht man sofort, dass ein Chor keine Gleichheit ist, sondern ein solches Stimmen, in dem jeder sich selber wird. 
Ein stimmiger Chor kann keine Demokratie sein, denn eine Demokratie wird von Regeln gemacht und ein Chor wird von dem gemacht, was in jedem einzelnen ist und was dieser zur Einstimmung bringen kann, zur Übereinstimmung in die Gemeinschaft, die schöpferisch und nicht nur produktiv sein könnte. 
Die Demokratie ist keine gemeinschaftliche, sondern eine gesellschaftliche Sache, und weil jede Gesellschaft wirtschaftlich funktioniert, kommt in ihr keine Schöpfung zustande. Die Schöpfung kann sich nicht nach wirtschaftlichen Kriterien richten, sondern sie kann sich nur nach sich selber richten, nach dem, was in ihrem Wissen ist. 


Im Wissen der Schöpfung ist alles, auch das, was zum Leben und Überleben notwendig ist. Wir wären nicht da und es gäbe keinen Überfluss in der Natur, wenn sich die Schöpfung nicht um sich selbst kümmern würde. Wenn sich die Schöpfung aber nur um sich selbst kümmern würde, dann wäre sie nicht imstande, sich so zu entwickeln, dass sie sich selber wird. 
Sich selber werden oder sich einen Standard geben, einen Lebensstandard, der vieles vereinfacht und vieles erleichtert, ist wirklich ein Unterschied, denn der Standard ist das Ergebnis des Fortschritts, aber sich selber werden kann man nur dann, wenn man sich so entwickelt, dass das Dasein zur Ganzheit wird. 


Eine Entwicklung ist auch ein Fortschritt, aber ein Fortschritt ist keine Entwicklung, denn der Fortschritt verleugnet die Ganzheit, und weil er die Ganzheit verleugnet, kehrt er sich gegen sich selbst. Wir kümmern uns nur um den Fortschritt und entwickeln uns nicht dorthin, wo sich die Strukturen so öffnen, dass kein Widerspruch mehr entsteht. Wir widersprechen, weil wir keine Entwicklung vollziehen, sondern nur den Fortschritt erzwingen, der die Schöpfung verliert, die die Struktur, die sie hat, nie verhärtet, indem sie sie einseitig macht. 
Die Struktur der Schöpfung ist elementar, und weil das Elementare nur öffnet, nur Anfang ermöglicht, nur ermöglicht, dass Wissen konkret wird und dass Welt zur Welt kommen kann, landet die Schöpfung nie dort, wo wir inzwischen gelandet sind. 


Wir landeten mit diesem Denken, das sich dem Elementaren verschliesst, im Wirrwar dieser Strukturen, die die Schöpfung zerstören und die die Schöpfung mit allem, was zu ihr gehört, in jene Wüste verwandeln, die sich gegen uns kehrt. Wir können nicht überleben, wenn wir das Erste nicht respektieren, denn das Erste ist die Voraussetzung für das Zweite und Dritte und Vierte, und sobald das Erste verloren geht, landet alles andere dort, wo sich der Schlusspunkt des Denkens befindet, der Schlusspunkt dieser Struktur, die man als Todesstruktur bezeichnen kann.
Die Denkstruktur ist keine Lebensstruktur, sondern eine Struktur, die der Schöpfung den Reichtum nimmt, um sich selber so reich zu machen, dass die Sinnlosigkeit alles erstickt. Die Sinnlosigkeit dieses Fortschritts, in dem wir uns heute befinden, verkürzt unser Leben so, dass es den Tod erlebt, bevor es begonnen hat.


Selbstverständlich ist es uns wichtig, das Ende so auszudehnen, dass es nicht aufhört und dass es alles mit einbezieht. Wir verlängern das Dasein und können nicht da sein, und weil wir dem Sein widersprechen, wird die Dauer zur Zeit, die wir verlieren, die wir ununterbrochen verlieren, aber niemals zurückgewinnen, auch wenn die Erwartung so gross wird, dass wir viel älter werden als jetzt. 
Weshalb wollen wir diese Struktur verlängern, die alles verengt und alles verkürzt und alles vervielfacht, aber nichts Neues erschliesst? Weshalb wiederholen wir immer das Gleiche? Weshalb machen wir immer den gleichen Schritt, den wir schon tausendmal machten, ohne einen einzigen Schritt weiter gekommen zu sein? Weshalb verändern wir nie etwas, indem wir uns selber verwandeln? Ja, weshalb verlieren wir unser Dasein, indem wir die Sprache der Schöpfung verleugnen, die elementare Sprache, die alles zusammenhält? 


Ich kann keine Antwort geben. Aber ich kann in die Sprache der Schöpfung gehen, und wenn ich dies tue, dann entsteht dieser Text, der keinen Standpunkt enthält, sondern den Punkt, um den es schlussendlich geht. Schlussendlich geht es nur darum, dem Ende den Anfang zu geben und wieder ins Leben zu kommen, in dieses Leben hinein, das der Schöpfung entspricht und das diese Schönheit erreicht, die verloren gegangen ist. 
Die Revolutionen sind Schritte dorthin. Und die Revolution in Ägypten wird sicher sehr viel erreichen, denn sie stimmt mit dem überein, was in der Luft liegt oder, anders gesagt, was in der Schwingung der Zeit liegt, die keinen Kreislauf beschreibt, sondern sich fortsetzt und sich über alles hinwegsetzt, was in sich gefangen ist. 


Die Revolution in Ägypten wird keine Demokratie hervorbringen, aber sie wird diese Struktur vorbereiten, die natürlicher als die Demokratie ist. Die Demokratie war eine Geschichtsepoche, und wenn wir die Geschichte hinter uns lassen, dann entsteht vielleicht eine Staatsform, die natürlicher funktioniert. 
Natürlicher heisst vor allem, dass das Elementare der Maßstab ist und dass Macht nicht mehr Herrschaft bedeutet, sondern Sorge um das, was es gibt. 

Hua Hin, 9./10. Februar 2011

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