15.02.11

9 - Wir waren im Schnee

Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011

Wir wollen nach vorne kommen, nach vorne, dorthin, wo die sichtbare Seite der Welt alles enthält, alles, was wir uns wünschen, alles, was wir uns erträumen und als bildhafte Welt vorstellen, als Bilderwelt, die der Schöpfung der Rang abläuft. Die Schöpfung war für uns immer ein Zufall, ein Zufallsergebnis, weil die Entwicklung, die sie hinter sich hat, ebenso gut anders, ganz anders hätte sein können. Die Schöpfung war für uns immer etwas, das kein Konzept hat und das deshalb verbesserungswürdig ist. 

Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Erst wollten wir sie verbessern, indem wir ins Jenseits gingen und diese Götter erfanden, die die Schöpfung in ihren Händen hielten, auch wenn sie ihnen immer wieder entglitt. Dann erfanden wir einen Gott, der nicht mehr im Wettbewerb stand und der sich der Schöpfung annehmen konnte, ohne dass er ständig gestört und von andern verunsichert wurde. Doch da sich der Gott der Engel bedienen musste, um seine Herrschaft zu sichern, konnte es nicht ausbleiben, dass sich einer von ihnen gegen alles auflehnte, was ins Werk gesetzt wurde.
Er sah, dass der Gott sein eigenes Bild konkret machen wollte, sein paradiesisches Bild, und er dachte, dass dieses nicht vollständig sei, wenn es nur das Gute enthalten würde. Er dachte, es müsse doch etwas geben, das dem Guten zuwiderläuft und das im Widerspruch steht zu ihm.
Er sagte dem Gott: Ich widerspreche der Schöpfung, die du erschaffst, weil ich vom Gegenteil überzeugt bin, vom Gegenteil dessen, was du erschaffst. 
Was ist denn das Gegenteil? - fragte der Gott. 
Und der Engel gab ihm zur Antwort: Eine Schöpfung, die sich selber erschafft und in der es keine Vorgaben gibt, sondern nur die Freiheit, sich selber zu sein. Er sah, dass sich der Gott Gedanken darüber machte, und deshalb nutzte er den Moment und fügte seiner Antwort hinzu: Wenn ich dir behilflich sein kann, deiner Schöpfung Spannung zu geben, will ich dies gerne tun. 

Er sah, dass der Gott noch immer nachdachte, was ihm weder gefiel, noch missfiel, was ihn aber auf den Gedanken brachte, der Schöpfung, die Gott erschuf, eine Gegenschöpfung zu geben. Er sagte dem Gott: Nach reiflicher Überlegung will ich nicht mehr mit dir arbeiten, sondern selbstständig sein. Die Selbstständigkeit versetzt mich in deine Lage, denn sobald ich selbstständig bin, verselbstständigt sich meine eigene Schöpfung.

Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Der Gott, der nachgedacht hatte, entgegnete nun: Es sollte dir klar sein, dass deine Schöpfung nicht an meine Schöpfung heranreichen kann, denn du bist und bleibst ja ein Engel. Ich weiss, sagte der Engel schnell, aber deine Schöpfung ist ja von uns abhängig und ohne uns gibt es sie nicht. Ohne uns wäre deine Schöpfung nur eine Idee, was konsequenterweise bedeutet, dass die Schöpfung, die ich erschaffe, ebenso schön sein wird. Sicher, sagte der Gott, deine Schöpfung wird ebenso schön sein, aber nicht ebenso reich, denn der Reichtum kommt von der Idee, und da du keine Idee hast, sondern nur nachahmen kannst, was ich in die Wege geleitet habe, verlierst du auf jeden Fall.


Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Der Engel dachte jetzt selber nach, und weil er den Sätzen, die Gott sprach, nicht widersprechen konnte, sagte er schliesslich: Sei doch nicht so und verschliesse mir deinen Reichtum! Du könntest doch deine Idee an mich weitergeben, und wenn ich sie habe, würde ich dafür sorgen, dass du dauernd erwähnt wirst, in jeder Schöpfung, die ich erschaffe. Sobald du ja sagst, beginne ich mit dem Entwurf, und weil ich jede Schöpfung entwerfen werde, bevor ich sie konkret mache, wird kein Würfel darüber entscheiden, wie sie aussehen wird. Deine Schöpfung war ja ein Wurf, und weil jeder Wurf ein Risiko ist, will ich sicher gehen und der Gefahr ausweichen, dass eine Schöpfung fehlerhaft ist. 
Die Fehler in deiner Schöpfung können vernachlässigt werden, aber der Ehrgeiz, den ich besitze, ist grösser. Ich will, dass jede Schöpfung vollkommen ist. Ja, ich will den Reichtum deiner Schöpfung so übertreffen.


Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Der staunende Gott war im Himmel, in seinem eigenen Himmel, und er schaute sich um und versicherte sich, ob alles in Ordnung sei. Er warf einen Blick in Richtung des Engels, der sich so in seine Ecke verkroch, dass er kaum sichtbar war. Er dachte, dass das Entwerfen eine Ecke benötigt und sagte dem Engel: Sobald du den ersten Entwurf hast, zeige ihn mir. Man lernt ja nie aus. 
Der Engel entwarf und entwarf, und irgendeinmal sagte er schliesslich, dass das Entwerfen sehr schwierig sei, viel schwieriger als das Werfen. 
So, sagte der Gott, aber du sagtest ja, dass das Entwerfen viel sicherer ist und deshalb ist es vernünftig, wenn du dir Zeit dafür nimmst. 
Der Engel entwarf, und während er eine Schöpfung entwarf, warf der Gott so viele Schöpfungen aus sich heraus, dass der Engel nicht nachkam zu schauen, und weil er nur schaute und schaute, blieb sein Entwurf ein Entwurf. 


Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Der Engel verlor irgendeinmal die Nerven und warf dem Gott den Entwurf vor die Füsse. Doch dieser verwarf den Entwurf, weil er so viele Fehler enthielt, dass er nicht akzeptiert werden konnte. Der Engel war wütend, weil jeder Entwurf misslang, weil jeder Entwurf verworfen wurde und ihn so aussehen liess, als könne er nicht gestalten. 
Der Engel wurde jetzt schwarz, so schwarz wie die Nacht, und weil er jetzt schwarz war, verwarf er den Tag und achtete nicht mehr darauf, ob sich das, was er machte, bei Licht betrachtet, bewährte. Er setzte sich über alles hinweg, was logisch gewesen war, und weil er unlogische Sachen machte, nahm ihn der Gott ins Gebet. Dieser sagte dem Engel: Wenn du so weitermachst, wirfst du die Schöpfung aus ihrer Ordnung. Doch der Engel wollte nicht hören und machte weiter mit seinem Spiel. 


Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Ich will dich nicht aus dem Himmel werfen, sagte der Gott zu ihm, aber wenn du so weitermachst, öffne ich dieses Fenster, damit du die Schöpfung siehst. Der Engel interessierte sich nicht für die Schöpfung und kehrte dem Gott den Rücken. Doch dieser war schneller und setzte sich so in die Ecke, dass der Engel nicht mehr in sie gehen konnte. 
Der Engel warf sich zu Boden, und man hätte jetzt meinen können, dass er sich dem Gott unterwirft. Doch der Gott war kein Gott, der die Unterwürfigkeit schätzte, und deshalb sagte er seinem Engel: Ich wollte dir eigentlich sagen, dass du deinen Entwurf verwirklichen kannst und dass du keine Angst haben musst, dass ich dich irgendwie bremse. 


Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Vor lauter Freude nahm der Engel die Hand seines Gottes und schüttelte diese so lange, bis sie sich schwarz verfärbte. Ein schwarzhändiger Gott ist kein Gott mehr, sagte der Gott und zog den Engel in sein Vertrauen. Er sagte dem Engel: Ein Engel ist eigentlich auch ein Gott, und weil du so schwarz bist, schüttle ich dir die Hand, damit du den Schnee bekommst, den ich bis jetzt hatte. 
Der Engel war wieder begeistert, und weil er begeistert war, nahm er nicht etwas vom Schnee, sondern allen Schnee, den der Gott hatte. Das Schwarz, das der Engel besass, verlor sich vollständig, und es schneite nun so, dass sich der Engel wünschte, dass sich die Sonne erbarmt. Die Sonne erbarmte sich schon, aber sie erbarmte sich nicht als Sonne, sondern als Feuer, das alles verbrannte. Die Sonne erbarmte sich so, dass der Engel den Gott anflehte, aufzuhören damit, seinen Schnee zunichte zu machen, denn was bliebe ihm noch, wenn er seinen Körper verlöre und nur noch Wasser wäre, das fliesst. 


Doch der Gott erbarmte sich nicht, sondern er schickte die Sonne in jede Ecke, in jede verteufelte Ecke, weil in jeder Ecke einer entwarf, irgendetwas entwarf, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wie Werke entstehen und was sie von einem verlangen. Werke sind so, wie sie sind, weil sie von diesen geschaffen wurden, die wussten, was Schöpfung bedeutet, oder von diesen, die entwarfen und nur entwarfen und deshalb verbauten, was war. 


Sea, Gulf of Thailand, Cha Am, 2011
Die Schöpfung ist immer ein Wurf, ein einmaliger Wurf, und jeder, der wirft, weiss genau, dass es ein Risiko ist, das grösste Risiko, das es gibt, den eigenen Schnee ins Feuer zu werfen, damit es fliesst, einfach fliesst, damit sich die Schöpfung ereignet, die alles mit allem vereint. 
Es gab diesen Dichter, der den Würfelwurf schrieb und der den Entwurf, den er machte, ins Wörtliche brachte, ins wörtliche Sagen, das er im gleichen Moment so einfach und so vielschichtig machte, dass es alles enthielt, alles, was wir von Gott und den Engeln wussten, alles, was wir im Wahn und im Glauben besassen, alles, was wir als Kunst verstanden und ins Künstliche brachten, alles, was Bild war und bildlos geworden war. 


Wenn ich diesen Dichter erwähne, dann deshalb, weil er es fertig brachte, der Sprache die Schöpfung zu geben, was, ich kann es nicht anders sagen, nur selten, ganz selten geschieht. Nur selten entsteht diese Sprache, die keine Willkür besitzt, sondern die so genau ist, dass sich jedes Wort so vertieft, dass es zum Kosmos, zum kosmischen Ganzen wird. 
Wir waren im Schnee, und weil wir im Schnee ertranken, vergassen wir einfach, was war, was in uns vorhanden war. Was in uns vorhanden war, wusste der Dichter, der schrieb, einfach schrieb, ohne darauf zu achten, ob das, was er schrieb, irgendjemand verstand.
Un coup de dés* ist kein Werk, das von vielen gelesen wird, aber es ist ein Werk, das wirkt und nachwirkt und einen Einfluss besitzt, der nicht aufhört und viele zum Fliessen bringt. 


* Un coup de dés jamais n'abolira le hasard (1897)
Hua Hin, 15.02.2011

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